Was ist Wahrheit? Diese große Frage - ausgerechnet von der biblischen Figur des Judas aufgeworfen - stand über dem 22. Aschermittwoch der Künste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und der Hanns-Lilje-Stiftung in der Stadtkirche Celle. 150 Gäste aus Kultur, Kirche und Gesellschaft erlebten Szenen aus Lot Vekemans´ Ein-Personen-Stück Judas, von der jungen Regisseurin Marléne Jeffré für das Celler Schloss-Theater inszeniert.
In der reich verzierten, 16 Grad kalten Barock-Kirche spielte Hussam Nimr eindringlich im Altarraum mit kargen Bühnenbild und mit nacktem Oberkörper den Judas. Als gewissermaßen Auferstandener reflektierte er die drei Jahre mit Jesus, mit dem er fast gleichzeitig starb. "Ich erwartete viel von ihm und von mir selbst". Wütend stieß er hervor: "Wenn man nichts tut, kann man auch nichts falsch machen". Glaube brauche keine Aktion, man wolle ihn behalten. "Zweifel will man loswerden. Dafür muss man etwas tun. Wer zweifelt, muss sich entscheiden". Nicht nur Jesus musste vom sauren Wein trinken, auch er, so Judas weiter. "Er ist nicht für eure Sünden gestorben. Wenn hier jemand für eure Sünden gestorben ist, dann bin ich das". Er lernte von Jesus, etwa in einem alten Mann mit einem schwerbeladenen Esel mehr als nur das Offensichtliche zu sehen, nämlich auch Schmerz und Armut.
Der Juventis Jugendchor am Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasium in Celle sang unter der Leitung von Stephan Doormann während der Theaterstück-Auszüge Teile von Bachs Johannes-Passion in moderner Interpretation und stellte sich damit in Kontrast zum Schauspiel Nimrs.
In der Podiumsdiskussion im Anschluss moderiert vom Sekretär der Hanns-Lilje-Stiftung Prof. Dr. Christoph Dahling-Sander meinte Dr. Stephanie Springer, Präsidentin des Landeskirchenamtes, sie könne traditionell nicht verächtlich auf Judas sehen und verstehe ihn als Prototyp dessen, der der Vergebung Gottes bedarf. Für Wolfram Beins, den ehemaligen Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle im Kirchenkreis Celle, habe sich Judas berufen gefühlt, sich radikalisiert und sei an seinen Zweifeln verzweifelt. Durch seinen anderen Blick habe der Zuschauer einen Tiefengewinn. Für Schloss-Theater-Intendant Andreas Döring zielt dies Ein-Personen-Stück auf Diskurs. Der Zuschauer könne sich nicht mit anderen Personen identifizieren. Für ihn gebe es „kein Entkommen“.
Zuvor hatte die Celler Superintendentin Dr. Andrea Burgk-Lempart festgestellt: Die Aufgabe von Kunst und Kultur sei, einen Raum zu eröffnen zwischen Reiz und Reaktion, eine Perspektive, die nicht glatt oder moralisierend sei. „Kunst und Kultur öffnen die dunklen Seiten in mir selbst, um die Wahrheit der eigenen Schatten in den Blick zu nehmen“.
Schon in seiner Begrüßung hatte die Wahrheitsfrage Dr. Matthias Surall, leitender Referent für Kunst und Kultur im Haus kirchlicher Dienste in Hannover, aufgeworfen. Die Figur Judas ermögliche dazu einen fremden Blick. Jesus sage im Johannesevangelium: „Ich bin die Wahrheit“. Auch die ihm nachfolgen, könnten nur auf ihn verweisen, haben die Wahrheit aber nicht, so Surall. „Wahrheit ist nur in Beziehung zu haben“. Sie brauche Austausch, Diskurs und Perspektivenwechsel, gerade angeregt durch Kunst und Kultur so Surall.
Die vollständige Aufführung „Judas“ des Schlosstheaters Celle wird in den kommenden Monaten in Kirchen in und um Celle zu sehen sein. Der Jugendchor führt die Johannespassion am Sonntag, 15. März um 17 Uhr in der Marienkirche in Celle auf.
Text: Gunnar Schulz-Achelis