Vesperkirche - eine Kirche bittet zu Tisch

Nachricht 05. Dezember 2022
(Foto: Nordstädter Kirchengemeinde)

Eine Kirchengemeinde bittet zu Tisch

Ritsch, ratsch macht die Säge und schon ist ein kleines Bambusrohr zurechtgeschnitten. Aus Holz basteln Kinder vor der Lutherkirche Insekten-hotels. Am Stand gegenüber schenkt eine Berufsschulklasse alkoholfreie Cocktails aus. Aus dem Zahnmobil hört man einen Bohrer surren. Dort werden unentgeltlich kranke Zähne behandelt. Während Diakoniemitarbeitende Fragen rund ums Testament beantworten, bieten ausgebildete Ehrenamtliche seelsorgerliche Hilfe an. In und um die Lutherkirche in Hannovers Nordstadt ist allerhand los. Die Vesperkirche ist gestartet. Über 15 Tage bietet die Nordstädter Kirchengemeinde ein abwechslungsreiches Kultur- und Sozialprogramm an. Im Zentrum steht ein kostenloses, warmes Abendessen für alle. Im Kirchenschiff stehen mit Blumen geschmückte Tische bereit. Helferinnen und Helfer mit gebügelten weiße Schürzen heißen die Gäste willkommen. Gekommen sind alte und junge Menschen, die neuen Nachbarn von gegenüber, Flüchtlingsfamilien und Wohnungs- und Obdachlose genauso wie alteingesessene Gemeindeglieder. Sie essen zusammen und kommen ins Gespräch. Im Anschluss startet das abendliche Kulturprogramm. Auftritte von einem Magier oder einer Liedermacherin stehen genauso auf dem Terminplan wie geistliche Impulse, Gebete, Lesungen und politische Diskussionen.

(Foto: Nordstädter Kirchengemeinde)

Begegnung und Kultur für alle

»So vielfältig sah das Vesperkirchen-Programm 2019 aus«, erzählt Mareike Lenz. »Genauso bunt wollen wir nach der Pandemiepause wieder starten.« Die junge Diakonin organisiert zusammen mit Pastor Joachim Wiedenroth in der Nordstädter Kirchengemeinde die Vesperkirche 2022. Im September soll sie über zwei Wochen täglich von 16.30 bis 21 Uhr stattfinden. »Gemeinsam zu Tisch«, unter diesem Motto sollen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus und Altersstufen aus dem Stadtteil zusammenfinden. Neben der Kirchengemeinde tragen vier Organisationen das Projekt, das zeitgleich in der Nordstädter und der Lister Kirchengemeinde stattfinden wird. Das sind der Stadtkirchenverband Hannovers, das Diakonische Werk Hannover, die Johanniter Unfall Hilfe und der CVJM Hannover. Gefördert wird das einzigartige Veranstaltungsformat unter anderem von der Hanns-Lilje-Stiftung.

2019 fand die Vesperkirche zum letzten Mal in der Lutherkirche statt. Danach war Zwangspause wegen Corona. Das gemeinsame Speisen und Reden, dieses uralte Ritual mit biblischen Wurzeln, konnte nicht stattfinden. »Wir wollen keine Armenspeisung veranstalten«, betont Mareike Lenz, wo bürgerliche Gemeindeglieder Wohnungs- oder Obdachlose bewirten. »An unseren Tischen sind alle gleich. Gleichwertig und gleich wichtig.« Dennoch habe sie bei einigen Menschen, die möglicherweise obdachlos oder wohnungslos seien, anfänglich Hemmungen bemerkt, das kostenlose Abendessen tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Die offene Kirchentür schien für sie eine unsichtbare Barriere darzustellen. Doch nach drei, vier Tagen mit dem kostenlosen Angebot hätten sich auch die Zögerlichen in die Kirche getraut, erinnert sich Lenz.

Möglichst viele verschiedene Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus zusammenzubringen, Menschen, die sich im Alltag nicht begegnen oder nicht miteinander sprechen, darum geht es bei den Vesperkirchen. Aber: sich zu unterhalten mit Men-schen, die man nicht kennt, ist leichter gesagt als getan. Das weiß auch Diakonin Lenz. »Deshalb wollen wir in diesem Jahr mit Frage-Karten unseren Gästen helfen, noch leichter ins Gespräch zu kommen.«

Die Nordstädter Kirchengemeinde blickt auf zwei erfolgreiche Veranstaltungen, 2017 und 2019, zurück. Mit einem attraktiven, niedrigschwelligen Mitmach-Programm gelang es so, Jung und Alt anzusprechen. Während Kinder die Himmelsleiter am Turm der Lutherkirche erklommen, konnte Oma einen kostenlosen Hörtest machen oder konnten junge Eltern sich über Kitaplätze informieren. Auch bei den über Hundert ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern gab es eine gute Altersmischung. Angefangen von der jungen Küchenhilfe bei der Essensausgabe bis hin zum Rentner, der beim Aufbau mithalf. Selbst die mittlere Alterskohorte, die 35- bis 50-Jährigen, die im Gemeindeleben ansonsten kaum sichtbar seien, hätten sich beteiligt; als Teilnehmende und als Mithelfende.

Nun will Mareike Lenz an die Erfolgsgeschichte anknüpfen. Gerade reaktiviert sie das alte Netzwerk aus zahlreichen gemeindenahen und -fernen Akteurinnen und Akteuren, die ein so großes Projekt erst möglich machen. Aber Corona hat seine Spuren hinterlassen. »Es fühlt sich an wie ein Wiederaufbau«, sagt Lenz. »Aber gerade darum ist es so wichtig und lohnt sich.«

Vesperkirche – das Erfolgskonzept

Die Idee der Vesperkirche stammt ursprünglich aus Süddeutschland. 1995 fand in der Stuttgarter Innenstadt-Kirche, der Leonhardskirche, erstmals dieses neuartige Kirchenformat statt, das ein kostenloses Abend-essen mit einem Gesprächs- und Kulturangebot verband. Mittlerweile gibt es Dutzende Gemeinden deutschlandweit, die die Idee aufgegriffen haben und das urchristliche Ritual gemeinsamer Mahlzeiten und Tischgemeinschaften pflegen. Dabei passen die einzelnen Gemeinden das Konzept den jeweiligen lokalen Begebenheiten und Bedürfnissen an.

Der Theologe Martin Dorner sieht Vesperkirchen als einen wichtigen Katalysator für eine gesellschaftliche Neuorientierung der Kirchen. »Wenn wir mehr Menschen aus der ganzen Breite der Gesellschaft erreichen wollen, kann ein fröhliches gemeinsames Essen in der Mitte des Kirchenraumes mitunter ein passenderer Anknüpfungspunkt sein als ein klassischer Gottesdienst«, sagte der Leiter des Netzwerks Diakonisches Lernen in Bayern bei einer Tagung der hannoverschen Hanns-Lilje-Stiftung. Die Vesperkirche bringe Bewegung in die Gemeinde, ziehe generationenübergreifendes ehrenamtliches Engagement nach sich und vertiefe die Vernetzung der Gemeinde mit anderen Akteuren in der Stadt, erläuterte Dorner einige Erfolge von Vesperkirchen.

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