Warum Deutschland Inklusion so schwer fällt
Die frühere Bundesgesundheitsministerin und heutige Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, Ulla Schmidt, fordert beim Hanns-Lilje-Forum die
Politik auf, mehr gegen die soziale Spaltung in Deutschland zu tun.
Deutschland gehört zu den wohlhabendsten Ländern der Erde. Doch um die Teilhabe an diesem Wohlstand müssen Menschen mit Behinderung kämpfen. Der reguläre Arbeitsmarkt bleibt vielen verschlossen. Reisen mit der Bahn oder Essen im Restaurant scheitern oft an Barrieren. Behinderte Kinder werden teilweise separiert und in Förderschulen unterrichtet.
Über die Gründe sprechen wir mit Ulla Schmidt. Die ehemalige Gesundheitsministerin und frühere Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags streitet als Bundesvorsitzende der Lebenshilfe für die Interessen von Menschen mit geistiger Behinderung.
Frau Schmidt, warum engagieren Sie sich gerade für Menschen mit Behinderung?
Ulla Schmidt: Meine besondere Beziehung zu Menschen mit Behinderung
zieht sich wie ein roter Faden durch meine berufliche Biografie. Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde, habe ich Sonderpädagogik studiert und viele Jahre als Lehrerin in Förderschulen gearbeitet.
Was bedeutet Teilhabe für Sie?
Ulla Schmidt: Demokratie bedeutet die Teilhabe aller Menschen, egal, ob sie behindert oder nicht behindert sind. Und der Staat ist verantwortlich dafür, diese Teilhabe aller zu organisieren und möglich zu machen.
Wie garantieren wir, dass alle ein Stück vom Wohlstandskuchen erhalten?
Ulla Schmidt: Als Gesellschaft müssen wir zunächst dafür sorgen, dass alle mit am Tisch sitzen können, wenn der Kuchen verteilt wird. Und wir sollten darauf achten, dass niemand ein zu großes Stück vom Kuchen erhält und ein anderer vom Tisch weggestoßen wird. Letztlich können wir alle nur in Ruhe und Wohlstand leben, wenn es eine vielfältige und offene Gesellschaft gibt. Nicht alle müssen das gleiche Geld haben, aber jeder und jede muss das Gefühl haben, ich gehöre dazu. Ich kann etwas aus meinem Leben machen. Das heißt auch, dass die, die Unterstützung benötigen, diese bekommen.
Zu einer demokratischen Gesellschaft dazuzugehören, bedeutet, wählen zu dürfen. 2021 durften erstmalig überhaupt rund 85.000 Menschen den Bundestag mitwählen, die unter Betreuung stehen. Dafür haben Sie sich eingesetzt.
Ulla Schmidt: Ja, das war eine große Ungerechtigkeit, die beseitigt wurde. Menschen, die unter umfassender Betreuung standen, hatte man attestiert, dass sie nicht in der Lage seien zu wählen. So waren sie auch von den Bundestagswahlen ausgeschlossen. Fast zehn Jahre habe ich für diese Wahlrechtsänderung im Parlament gekämpft. Doch erst eine erfolgreiche Klage von Betroffenen vor dem Bundesverfassungsgericht, die die Lebenshilfe unterstützte, brachte den Durchbruch.
Woran waren Sie zuvor gescheitert?
Ulla Schmidt: Bis zum Schluss hatte sich die CDU/ CSU massiv gegen eine Änderung des Wahlrechts gewehrt. Nicht alle natürlich, aber gerade die Fraktionsspitzen waren dagegen. Und, das will ich nicht verschweigen, selbst meine Partei, die SPD, musste ich ganz am Anfang erst überzeugen. FDP und Grüne waren schon länger auf der Seite der Menschen mit Behinderung.
Welche Argumente wurden Ihnen entgegengehalten?
Ulla Schmidt: Es wurde einfach behauptet, »die können das nicht«. Andere Abgeordnete sahen gleich die gesamte demokratische Ordnung gefährdet.
Warum das?
Ulla Schmidt: Weil die Betroffenen ja beeinflussbar seien – durch ihre Betreuerinnen und Betreuer. Mit diesem Argument, das keines war, hätten sie genauso das Wahlrecht von Menschen, die in Altenheimen leben oder die zu Hause von Verwandten versorgt werden, infrage stellen können und wohl einen Proteststurm geerntet.
Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet, jederzeit in die Kneipe, ins Kino oder zum Arzt zu gehen. Doch viele Menschenmit Behinderung stoßen dabei auf Barrieren verschiedenster Art: Mal sind die Stufen zu hoch, Türen zu schmal oder Filme nicht untertitelt. Für private Unternehmen gibt es – anders als für öffentliche Gebäude – keinerlei bauliche Vorgaben.
Ulla Schmidt: Im öffentlichen Bereich gibt es mittlerweile Rechtsansprüche auf barrierefreie Zugänge. In der Privatwirtschaft – und das betrifft 90 Prozent der Orte, die Sie und ich im Alltag besuchen – gibt es das bisher nicht. Allein eine digitale Barrierefreiheit solles bereits bis 2025 geben. Nun bin ich sehr froh, dass im jetzigen Koalitionsvertrag diese Lücke geschlossen wird. Noch in dieser Legislaturperiode soll die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichtet werden.
Warum tut sich Deutschland damit so schwer?
Ulla Schmidt: Traditionell gilt in Deutschland die Wirtschaft als unantastbar. Unternehmen werden geschützt. Egal, ob Sie die Frauenförderung nehmen oder die Förderung von Menschen mit Behinderung. All das bedrohe die Unternehmen und lasse sie zugrunde gehen.
Ändert sich das nicht gerade?
Ulla Schmidt: Doch, doch. Der neue Koalitionsvertrag enthält so viele Verbesserungen für behinderte Menschen wie keiner zuvor. Und die junge Generation in Deutschland weiß, dass Diversität ein Erfolgsfaktor ist, gerade international, und dass wir dazu kommen müssen, jedes Potenzial, das es hier gibt, auszuschöpfen. Und da gehören behinderte Menschen dazu.
Schon heute gibt es zahlreiche Fördermöglichkeiten und Zuschüsse für Betriebe, die behinderte Menschen einstellen. Dennoch zahlen viele Unternehmen lieber eine Abgabe, als ihnen eine Chance zu geben. Wie erklären Sie sich das?
Ulla Schmidt: Als ich in den 1980er Jahren noch als Förderschullehrerin arbeitete, bekamen viele junge Erwachsene mit Einschränkungen noch einfache Jobs bei Firmen, wo sie sauber gemacht oder im Servicebereich gearbeitet haben. Viele dieser Hilfstätigkeiten sind im Zuge von ewinnmaximierung und Effizienzsteigerung weggefallen. In ländlichen Regionen oder in kleinen überschaubaren Strukturen gibt es noch eher mal einen Handwerker, der sagt: »Ja, dieser junge Mann, diese
junge Frau kann hier arbeiten.« Trotz der Beeinträchtigung.
Sind wir von der inklusiven Gesellschaft trotz aller öffentlichen Bekenntnisse noch weit entfernt?
Ulla Schmidt: Es wäre falsch zu sagen, dass wir nicht vorangekommen sind. Durch das Bundesteilhabegesetz etwa gibt es eine andere Ebene der Diskussion. Menschen mit Behinderung haben den Anspruch auf Teilhabe am Arbeitsleben. Es gibt die Assistenz am Arbeitsplatz. Aber es ist nicht selbstverständlich. Alle reden von Inklusion, aber am liebsten hat man die Inklusion nicht um sich herum, weil das zunächst viel mehr Arbeit macht.
Welchen Anteil an dieser Zustandsbeschreibung hat unser Schulsystem mit Regel- und Förderschulen?
Ulla Schmidt: Tatsächlich sind die Schulen ein großes Problem. Da sind wir im Grunde genommen nicht wirklich einen Schritt weitergekommen. Die Beschulung in extra Förderschulen ist nicht mehr zeitgemäß. Leider sind wir, was die inklusive Pädagogik und die Ausbildung von Lehrkräften angeht, ein Entwicklungsland.
Wer Italien, die Niederlande oder kandinavische Länder besucht, erlebt dort mehr Menschen mit Behinderung im Alltag. Barrierefreiheit scheint dortselbstverständlicher. Ticken wir Deutschen anders?
Ulla Schmidt: In Deutschland herrscht, anders als in vielen anderen Ländern, ein defizitorientiertes Denken, das die Potenziale und Fähigkeiten von behinderten Menschen vollkommen übersieht – und so letztlich den gesellschaftlichen Fortschritt verhindert. Mir ist es beispielsweise unerklärlich, dass in Südafrika hinter jedem Bürgermeister ein Gebärdensprachdolmetscher steht, bei uns aber nicht.
Woher rührt dieses Denken Ihrer Ansicht nach?
Ulla Schmidt: Als ich Kind war, ich bin Jahrgang 1949, sah man kaum behinderte Menschen. Sie waren ja alle tot. Die Nazis hatten im Rahmen ihres sogenannten Euthanasieprogramms Hunderttausende von ihnen in Deutschland und Europa ermordet. Die Vorstellung, dass Menschen mit Behinderung keinen Platz in dieser Welt haben und wie Gestrüpp ausgerissen werden müssen, hat Generationen von Deutschen vor mir geprägt. Lange Zeit war nicht selbstverständlich, dass Menschen mit Beeinträchtigungen oder psychisch kranke Menschen zur Vielfalt des menschlichen Lebens dazugehören und ist es bisweilen heute noch nicht.
Reichen neue Gesetze und Verordnungen aus, das zu ändern?
Ulla Schmidt: Nein. Aber gesetzliche Vorgaben benötigen wir für Unternehmen, damit mehr Menschen mit Behinderung reguläre Arbeitsplätze bekommen. Für die, die nicht mitmachen, muss es teuer werden. Mit Gesetzen schaffen wir allerdings keine Akzeptanz für das Zusammenleben. Für die Akzeptanz brauchen wir die Zivilgesellschaft. Das ist unsere große Aufgabe, die Inklusion in der Kommune, beim Wohnen, in Kindergarten und Schule, im Verkehr, voranzubringen.
Inwiefern?
Ulla Schmidt: Inklusive Kindergärten sind, wo es sie gibt, hoch angesehen
auch von Eltern von nicht-behinderten Kindern, weil sie erleben, wie sozial kompetent ihre Kinder aufwachsen und wie deren musisch-künstlerischen Talente gefördert werden. Von einer Verkehrsplanung, die Menschen mit Beeinträchtigung von Anfang an mitdenkt, profitieren alte Menschen mit Rollatoren genauso wie Eltern mit Kinderwagen. Die inklusive Gesellschaft entsteht im Stadtteil. Allerdings ist es bis dahin noch ein weiter Weg. Und für uns bleibt noch viel zu tun.