Warum das Bruttoinlandsprodukt nicht das Maß aller Dinge ist
Die wichtigste Zahl der Welt, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), verliert an Macht und Einfluss. Seit fast einhundert Jahren regiert diese Zahl die Wirtschaftspolitik der meisten Länder der Erde. Je höher das BIP, desto höher der Wohlstand für alle, so die Idee. Obwohl schon der Erfinder dieser Zahl, der Nobelpreisträger Simon Kuznets, 1930 erklärte, dass das BIP nicht dazu geeignet sei, unser aller Wohlstand zu messen. Trotzdem wurde in Deutschland Jahr für Jahr diese magische Zahl verkündet – und Politik daran ausgerichtet.
Dabei steht die Macht dieser Zahl im krassen Gegensatz zu ihrer begrenzten Aussagekraft. Jedes Unfallauto, das repariert werde, gehe positiv in die BIP-Rechnung ein. »Obwohl nur der Zustand vor dem Unfall wieder hergestellt wird. Und der Wohlstand somit gleich bleibt«, sagt der Heidelberger Wirtschaftswissenschaftler und Kritiker des BIP, Prof. Dr. Hans Diefenbacher. Mehr als 20 Jahre war Die-fenbacher Beauftragter für Umweltfragen des Rates der EKD. Er plädiert schon lange für eine Neudefinition und Neubemessung des Wohlstands. Seine Kritik: Das BIP sei blind für die immensen sozialen und ökologischen Kosten des Wachstums. »Das BIP sagt weder etwas über die Verteilung des Wohlstands in einer Gesellschaft noch über unseren Bildungsstand, den Zustand der Umwelt oder unserer Gesundheit aus«, so Diefenbacher.
Ein Beispiel: Im Prinzip müssten die USA, die das höchste BIP weltweit aufweisen, überall Spitzenpositionen einnehmen. Bei einer Lebenserwartung von 78 Jahren liegen sie um drei Jahre unter dem OECD-Durchschnitt von 81 Jahren. Auch bei der Bildung oder der Einkommensverteilung liegen die USA zum Teil weit hinter Staaten mit geringerem BIP zurück.
Wohlstand – aber welcher?
»Unendliches Wachstum existiert in einer endlichen Welt wie der unseren nicht«, sagt der Ökonom Diefen-bacher. Das habe bereits der Philosoph John Stuart Mills anno 1863 erkannt. Vor 50 Jahren warnte der Club of Rome eindringlich vor den Grenzen des Wachstums. Die Fixierung auf Wirtschaftswachstum blieb jedoch. Mittlerweile stehen wir vor einem Klimakollaps. Die Kapazitäten unseres Planeten, sich zu regenerieren, sind nahezu aufgebraucht. Höchste Zeit, Politik und Wirtschaft an anderen Kennwerten auszurichten. »Wohlstand hat neben einer materiellen Basis auch eine soziale, ökologische und gesellschaftliche Dimension. Diese müssen wir mitberücksichtigen«, so Diefen bacher. Und diesen anders messen, etwa an der Nettoinvestitionsquote, am Bildungsstand, der Anzahl gesunder Lebensjahre, unserem ökologischen Fußabdruck und der Biodiversität. »Letzten Endes ist ein guter Zustand der Umwelt die Voraussetzung dafür, dass wir das Wohlergehen an nachfolgende Generationen weitergeben können«, sagt Diefenbacher.
Immerhin: 2022 wurde bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts durch den Bundeswirtschaftsminister erstmals seit Gründung der Bundes-republik das BIP als ein Indikator unter vielen angekündigt, der unseren Wohlstand misst.