Während die Migration von Musliminnen und Muslimen massenmedial und politisch stark wahrgenommen wird, wird oft übersehen, dass im Zuge aktueller Migrationsbewegungen auch Christenmenschen nach Deutschland kommen. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge waren 2015 knapp 14% aller Asylbewerber Christinnen und Christen. Die Orthodoxe Bischofskonferenz geht davon aus, dass drei Millionen Orthodoxe in der Bundesrepublik leben. Wertet man verschiedene Statistiken aus, kommt man auf 10 Millionen Christinnen und Christen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Gelebte Vielfalt ist nicht nur Kennzeichen des weltweiten Christentums, sondern prägt auch die Situation in Niedersachsen. Delmenhorst ist seit 2012 Sitz des Bischofs für Ökumene der syrisch-orthodoxen Christen in Deutschland. In der ev.-luth. Arche Gemeinde Hannover feiert jeden Sonntag die Chinesische Christliche Gemeinde Hannover e.V. ihren Gottesdienst. Die Gemeinde wendet sich vor allem an Studenten, die aus China nach Deutschland gekommen sind. In Göttingen feiert eine russisch-orthodoxe Gemeinde jeden Sonntag in der Kapelle der Katholischen Hochschulgemeinde die Göttliche Liturgie. In Hannover gibt es zwei vietnamesische Gemeinden, eine davon ist seit 2017 Mitglied des Bundes Freier evangelischer Gemeinden. Dass sich das religiöse Leben nicht nur in den Städten verändert, dokumentiert die Emmanuel Gemeinde in Haselünne (Ev. -vietn. Kirchengemeinde), die dort eine eigene Kirche gebaut hat, in deren Räumen sich auch eine rumänische Gemeinde versammelt. Immer mehr Migrationsgemeinden sprechen dabei auch Christinnen und Christen aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft sowie aus anderen ethnisch-nationalen Communities an. Umgekehrt öffnen sich seit der großen Zahl von Geflüchteten 2015 landeskirchliche und freikirchliche Gemeinden zunehmend für Migrantinnen und Migranten. Es kommt zur Bildung internationaler und interkultureller Gemeinden.
Das Phänomen der Migrationskirchen wird von der Wissenschaft kaum und von den Kirchen u.E. zu wenig wahrgenommen. Dabei stellen die Gemeinden oftmals ein Beispiel gelungener Integration dar – und lassen die Universalität der Kirche vor Ort erfahrbar werden.
Im Rahmen des von der Hanns-Lilje-Stiftung geförderten Projektes Begegnung mit dem globalen Christentum vor Ort. Migrationskirchen in Niedersachsen wurde deshalb ein internationales Forschungsnetzwerk aufgebaut, das der besseren Erforschung von Migrationskirchen und der Kooperation entsprechender Forschungen dient. Das Forschungsnetzwerk soll zum einen das Phänomen der Migrationskirchen (in einem historisch weiten und deshalb auch die orthodoxen Kirchen einbeziehenden Sinn) in Niedersachsen genauer erfassen und dicht beschreiben und so zum anderen Möglichkeiten eines lebensförderlichen Zusammenlebens und einer fruchtbaren Begegnung zwischen Migrationskirchen und Kirchen der Reformation (samt ihrer akademischen Theologie) ausloten.
Mittlerweile hat sich das Netzwerk zu zwei Tagungen getroffen. Die Tagungsbeiträge sind unter www.migrationskirchen.uni-osnabrueck.de veröffentlicht. 2021 wird ein umfassender Sammelband zum Phänomen der Migrationskirchen erscheinen.
Spannend sind die rasanten Transformationsprozesse innerhalb dieser Kirchen. Dabei zeigt sich, dass die unterschiedlichen Migrationskirchen (seien sie evangelisch und vor allem afrikanisch oder asiatisch geprägt oder orthodox) im Umgang mit der zweiten und dritten Generation vor vergleichbaren Herausforderungen stehen. Deshalb werden zum dritten Treffen der Netzwerkgruppe auch einzelne Vertreterinnen und Vertreter aus der zweiten und dritten Generation von Migrationskirchen eingeladen.
Text: Prof. Dr. Gregor Etzelmüller, Universität Osnabrück und Dr. Claudia Rammelt, Ruhr Universität Bochum