Kyrill galt in Anfangsphase als Vermittler
Um die Bedeutung des Patriarchen zu verstehen, muss man gedanklich zunächst einige Jahrzehnte zurückreisen. Als Kyrill zum Patriarchen gewählt wurde, habe man ihn nicht für einen Radikalen gehalten, berichtete Prof. Willems. Er galt als Vermittler zwischen den Nationalisten und den offeneren, an der Ökumene interessierten Kräften seiner Kirche. Doch das hat sich gewandelt, inzwischen hat Kyrill seit Jahren einen festen Platz an der Seite des Putin-Regimes eingenommen. Der Präsident und der Patriarch kennen sich seit der gemeinsamen Zeit beim Geheimdienst KGB und die Kirche hat für Putin eine wichtige Funktion bei der Identitätsbildung des post-sowjetischen Russlands eingenommen. Wie Prof. Willems herausgearbeitet hat, hat das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt zudem von langer Hand das theologische Rüstzeug für den derzeit gegen die Ukraine laufenden Krieg bereitgelegt. Jahr für Jahr, Predigt für Predigt habe er ein Gedankenkonstrukt errichtet und ausgebaut, das den Angriff auf die Ukraine als apokalyptisches Befreiungsszenario stilisiert und damit zugleich Gräueltaten rechtfertigt oder klein spielt.
Um dieses Gedankenkonstrukt zu verstehen, muss man mit Prof. Willems noch eine weitere Reise in die Vergangenheit unternehmen. Sie beginnt im Jahr 988, jenem Jahr, das mit der „Taufe der Kiewer Rus“ den Anfangspunkt jenes mittelalterlichen Herrschaftsgebiets bildet, auf das sich der Patriarch noch heute bezieht. Der Großfürst Vladimir habe sich damals auf der Krim taufen lassen, schilderte Prof. Willems. Darin liege die Aussage Putins begründet, dass die Krim für die Russen ein ebenso heiliger Ort wie Jerusalem sei. In der Argumentation von Putin und Kyrill wird das heutige Russland nun mit der mittelalterlichen Rus gleichgesetzt, doch Prof. Willems betonte: „Das stimmt so nicht, aber es wird von Kyrill so ausgelegt.“
„Wer orthodox erzogen wurde, bringt keinen Tod und keine Gewalt.“
Dieser völkische Gedanke von der Rus erkläre auch, so Prof. Willems, wieso eine Verbrüderung der Ukrainer mit dem Westen in Kyrills Denkweise ein Sakrileg sein muss: Dieses Bündnis wird interpretiert als die Zerstörung des eigenen Volkes, als Genozid, den es zu verhindern gelte. Gleichzeitig sieht das Kyrillsche Gedankenkonstrukt keine Expansionspolitik der Russen vor, selbst wenn es sie de facto gibt. Schon 1589 habe nach Ansicht des Patriarchen nicht etwa der Zar Länder im Südosten erobert, sondern der Zar habe sich lediglich einen Schritt vorgewagt und alle Völker seien stets froh darüber gewesen, wenn die Russen ihr Herrschaftsgebiet weiter ausgebreitet hätten. Zudem wird gelehrt: „Wer orthodox erzogen wurde, bringt keinen Tod und keine Gewalt“, referierte Prof. Willems. Es sei damit durch die ROK bereits per Definition ausgeschlossen, dass Russen im Krieg Gräueltaten begingen. Die Massaker von Butscha könne es in dieser Denkweise deshalb gar nicht gegeben haben.
Zur Selbstwahrnehmung als per se friedlichem Volk gesellt sich dann noch, illustriert von Prof. Willems mit der Jahreszahl 1945, das Selbstbild vom Land, das sich permanent selbst verteidigen muss. Im „großen vaterländischen Krieg“ sei das der Fall gewesen und nun seit 2022 sei es wieder so. Russland befinde sich im apokalyptischen Kampf gegen die „Mächte dieser Welt“, eine Formulierung die wahlweise die Nato oder den Satan meine, erläuterte der Religionswissenschaftler: „Der Kampf wird nicht nur physisch, sondern metaphysisch aufgeladen: Es geht ums Ganze.“ Auch wenn Experten über den Einfluss der Kirche im säkularen Russland streiten, meint Prof. Willems, dass Kyrills Worte durchaus zur allgemeinen Akzeptanz des Krieges in der russischen Bevölkerung beitragen. „Man sollte Kyrills Einfluss nicht unterschätzen. Er bekommt dadurch Einfluss, dass er Putins Propaganda unterstützt und die Quellen dazu liefert.“